Artikel  und  Kolumnen  2019

 
 
 

Meine Kolumne in der Serie "Unkommod"

in: "Ostschweiz am Sonntag" und "Zentralschweiz am Sonntag" am 16. Juni 2019

 

Es leben die «Sechsten Kräfte» 

Medien haben immer schon Meinungen von Interessengruppen transportiert. Darum gilt es die Medienvielfalt zu fördern.

 
 
 

 
 

Wenn die «Ostschweiz am Sonntag» und die «Zentralschweiz am Sonntag» Ende Juni das Zeitliche segnen, dreht sich die Erde dennoch weiter. Und in den kommenden Jahren werden noch weitere Zeitungen sterben, ohne dass wir automatisch verblöden.
    Die Zeitung erlebte ihren Höhepunkt vor 100 Jahren, ehe das Radio aufkam und manche Blätter eine Morgen-, Mittag-, Abend- und Nachtausgabe druckten. Zeitungen waren die Sprachrohre der homogenen weltanschaulichen Milieus. In der Zentralschweiz war das «Vaterland» die Stimme der katholischen CVP, das «Luzerner Tagblatt» jene der Liberalen, und die LNN, die aus dem «Luzerner Tages-Anzeiger» hervorging, vertrat die genossenschaftlich-linke Wählerschaft, während östlich von Winterthur die katholische «Ostschweiz» und das freisinnige «St. Galler Tagblatt» die entsprechenden Parteilager bedienten.
    Mit dem Verschwinden der konfessionell geprägten Milieus wurde die Gesinnungspresse obsolet. Nur: Der Sprung von der zwei- bis dreipoligen Gesinnungspresse zu einpoligen Monopolblättern war ein Rückwärtssalto, weil diese die heutige heterogene Gesellschaft noch weniger abbilden.
     Landauf landab beziehen wir heute die meisten journalistisch aufbereiteten Nachrichten aus vier Quellen: SRG, Ringier, ch media und Tamedia. Die Medien dieser Unternehmen gilt es genauso zu fördern wie die zusätzlichen Produkte, von der linken «WochenZeitung» und der «Republik» bis zur rechts abgebogenen «Weltwoche».
    Nachrichten werden von offiziellen Redaktionen transportiert. Geboren werden sie aber einerseits bei Bund und Kantonen, Unternehmen, Verbänden und Hilfswerken, die professionelle Redaktionen unterhalten, die dort Kommunikationsabteilungen heissen. In diesen wirken vor allem ehemalige Redaktor*innen, die sich mit dem ersten oder zweiten Kind für geregeltere Arbeitszeiten und mehr Lohn entschieden haben.
    Andererseits werden Nachrichten zunehmend von Politikern und Sportlern, Musikerinnen, Influencern und Wutbürgern kreiert, die einen Twitter- oder Youtube-Account oder eine Facebook-Seite besitzen und oftmals mehr Follower haben als SRG und Ringier zusammen. Solange Twitterer sich an ethische Grundsätze halten, Social Media-Unternehmen rechts- und ehrverletzende Inhalte proaktiv löschen und Internet-Konsument*innen ihren Verstand nicht ausschalten, ist der Wild-West-Journalismus im Netz durchaus eine Bereicherung. Weil aber keiner dieser drei Faktoren garantiert ist, werden das Bedürfnis und die Notwendigkeit von Nachrichten weiter steigen, die aus Redaktionen stammen, welche mehr sind als Twitterer mit einem unstillbaren Mitteilungsbedürfnis und auch mehr sind als erweiterte Kommunikationsabteilungen von Staat, Politik und Wirtschaft. Es lebe darum die «Vierte Gewalt» beziehungsweise die kritisch reflektierenden und möglichst unabhängigen «Sechsten Kräfte» in und zwischen Parlament, Regierung, Gericht, Markt und Zivilgesellschaft.

 
 
 

 
 
 

Meine Kolumne in der Serie "Unkommod"

in: "Ostschweiz am Sonntag" und "Zentralschweiz am Sonntag" am 19. Mai 2019

 

Junge politisieren nicht nach Schema x 

Junge dachten immer schon anders als Alte. Neu ist, dass sie ihren Protest heute selbst organisieren.

 
 
 

 
 

Der Freitag erweist seinem Namen Ehre. Weltweit bleiben Schüler seit Herbst freitags der Schule fern und fordern mehr Klima- und Umweltschutz. Die Geister der Älteren scheiden sich an diesen Streiks. Schulleiterinnen und Rektoren freuen sich hinter vorgehaltener Hand über das Engagement ihrer politisch denkenden Schützlinge und beschliessen Flugverbote für Projektwochen. Eltern jammern, dass ihre Teenager nicht mehr in den SUV einsteigen, die Winterferien in Dubai verweigern und sonntags lieber Tofu als Rindsfilet essen. Und Rechtspolitiker kritisieren die Demonstrierenden mit absurden Schutzbehauptungen.

      Es ist kein neues Phänomen, dass Ältere sich gegenüber Kritik von Jungen mit einem Gegenangriff verteidigen. Schon der Philosoph Sokrates schrieb vor 2400 Jahren: «Die Jugend verachtet die Autorität und hat keinen Respekt vor den älteren Leuten. Sie widersprechen ihren Eltern und tyrannisieren ihre Lehrer.»

      Die Klima-Demonstrationen überraschen nicht nur Eltern und Lehrpersonen, sondern auch all jene Soziologen, Politologen und Psychologen, die jahrelang die Meinung vertraten, die Jugend sei apolitisch und engagiere sich nicht im gesellschaftlichen Diskurs.

      Um das Phänomen dieses «plötzlichen» Engagements der Klima-Streikenden einordnen zu können, hat die Heinrich-Böll-Stiftung vor zwei Monaten rund 700 Demonstrierende nach ihren Motivationen und Einstellungen befragt. Die Mehrheit sind gebildete Mittelschichtkinder, überwiegend weiblich und politisch gut informiert. Es geht ihnen schlicht um ihre Zukunft. Über 80 Prozent von ihnen kaufen gezielt ökologische Produkte, 70 Prozent schränken ihren Konsum für das Klima bewusst ein. Und die meisten sind überzeugt, dass weder die Politik noch die Wirtschaft in der Lage sind, Lösungen für das Klima zu finden. Darum müsse man mit den Demonstrationen international Druck auf die Entscheidungsträger ausüben.

      Dass die junge Generation als apolitisch galt, hatte weniger mit der Haltung der Jungen selbst zu tun als vielmehr mit der Wahrnehmung der Älteren, die politisches Interesse mit parteipolitischem Engagement und mit Präsenz an der Urne gleichsetzen.

     Auffallend an den jetzigen Demonstrationen ist die Tatsache, dass sich die Jugendlichen via Social Media weltweit selbst organisieren. Umweltverbände und Lobbygruppen spielen im Unterschied zu den Demonstrationen von 1968 und 1980 eine unbedeutende Rolle. Die Jungen orientieren sich nicht an politischen und weltanschaulichen Lagern, sondern an Themen.

     Das Thema Umwelt wird wegen der Klimastreiks in den kommenden Monaten zahlreiche Abstimmungen und Wahlen im In- und Ausland prägen. Und die Greta-Generation, die sich ihrer Zukunft beraubt fühlt, wird früher oder später nicht nur wegen der Umweltzerstörung auf die Strasse gehen, sondern auch wegen der Altersvorsorge, die ihre Zukunft mindestens so stark beeinträchtigt wie der CO2-Gehalt in der Luft. Die heutige Jugend wird mehr als ihre Eltern in die Altersvorsorge einzahlen und im Alter weniger als diese zurückbekommen. Während heute 3 Erwerbstätige auf einen Rentner kommen, wird das Verhältnis in 30 Jahren 1:1 sein. Der Freitag dürfte darum noch länger ein Freitag bleiben.

 
 
 

 
 
 

Meine Kolumne in der Serie "Unkommod"

in: "Ostschweiz am Sonntag" und "Zentralschweiz am Sonntag" am 21. April 2019

 

Den Verfassungs-Geburtstag verschlafen 

Unsere Bundesverfassung fände heute an der Urne wohl keine Mehrheit mehr.

 
 
 

 
 

Am 18. April 2019 feierte die Schweizerische Bundesverfassung ihren 20. Geburtstag. Niemand gratulierte, niemand feierte. Warum ist das so?

     These 1: Man feiert wie in der Ehe eher das silberne Jubiläum nach 25 Jahren als das 20-jährige Jubiläum.

     These 2: Die Feier der Bundesverfassung würde den Röstigraben aufreissen. Die Romands nahmen am 18. April 1999 die neue Bundesverfassung an, während von Uri bis Schaffhausen 12 von 26 Kantonen die neue Rechtsgrundlage ablehnten. Die Glarner lehnten sie mit 6’819 zu 2’934 Stimmen ab, während die Genfer sie mit 47'438 gegen 7'806 Stimmen annahmen.

     These 3: Wir sind keine Verfassungspatrioten. Die Stimmbeteiligung betrug anno 1999 in der Waadt gerade mal 17,5%, im Jura waren es 18,7%. Gerade weil sich Herr und Frau Schweizer sehr an Recht und Ordnung halten, interessieren sie sich wenig für den Schutz und die Garantie der Grundrechte.

     These 4: Die Bundesverfassung würde heute an der Urne mit hoher Wahrscheinlichkeit keinen Sieg mehr erringen. Die Präambel, die unsere zentralen Werte ausdrückt, würde keine Mehrheit mehr finden in einer Zeit, da einzelne Kantone über Kürzungen in der Sozialhilfe abstimmen und die Präambel mit Füssen treten, die besagt, dass sich die Stärke des Volkes am Wohl der Schwachen misst.

     These 5: Unsere Verfassung hätte heute auch darum einen schweren Stand an der Urne, weil der Grundrechtskatalog mehr oder weniger eine Kopie der EU-Verfassung ist.

     These 6: Eine Bundesverfassung, die sich einen religiösen Anstrich gibt, würde heute schon im Parlament scheitern. Die Verfassung von 1999 beginnt mit den Worten: «Im Namen Gottes des Allmächtigen!» (tatsächlich mit Ausrufezeichen). Der Staat regelt zwar Feiertage, Ehen und Begräbnisse, die eine religiöse Dimension haben. Aber die Religionsfreiheit, die im Artikel 15 garantiert wird, bedingt die religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates. Staaten sind nicht von einer göttlichen Autorität legitimiert, sondern von Menschen. Gott kann und soll nicht bemüht und vereinnahmt werden für mögliche Unzulänglichkeiten eines Menschenwerks.

     These 7: Unsere Verfassung wurde in den letzten 20 Jahren durch 37 Ergänzungen zu einem Flickwerk von Partikularinteressen. Mit Müh und Not konnte letzthin der Einzug von Kuhhörnern in die Verfassung verhindert werden. Dass der Uno-Beitritt in den Grundtext integriert wurde, ist nachvollziehbar. Aber alle anderen Zusätze – von Mehrwertsteuersätzen bis zu Minarettverbot, Zweitwohnungen und Velowegen – hätten leicht im Zivil-, Straf- oder Obligationenrecht Eingang finden können.

     These 8: Die Übersetzungen des deutschen Originaltextes in die weiteren Landessprachen würden heute dank «Google Translator» und «DeepL» weniger Fehler enthalten als jene der Profi-Übersetzer anno 1999. In der französischsprachigen Präambel wird zusätzlich zum Urtext die Gleichheit (équité) erwähnt, in der italienischsprachigen Version die Förderung des Zusammenhalts (coesione interna), und in der romanischen Übersetzung die Toleranz. Persönlich liebe ich aber gerade diese Redaktionspannen und habe am 18. April auf die Zusatzwerte trotz Fastenzeit speziell angestossen.

 
 
 

 
 
 

Meine Kolumne in der Serie "Unkommod"

in: "Ostschweiz am Sonntag" und "Zentralschweiz am Sonntag" am 24. März 2019

 

Wohnen. Arbeiten. Einkaufen – what else !? 

Mit dem Lift vom Sofa ins Büro und ins Café. Hauptsache, es ist praktisch.

 
 
 

 
 

Fährt man mit dem Zug in Zürich ein, sieht der letzte Kilometer seit über 5 Jahren täglich etwas anders aus. Zuerst schoss linkerhand Zürich West samt Prime Tower aus dem Boden. Dann wurde rechterhand das Europaallee-Viertel mit zahllosen Büros und Lofts, Cafés und Shops in die Höhe gezogen. Und nun werden auf der linken Seite die alten Gebäude rund ums Brockenhaus durch Triplo-Bauklötze ersetzt. Vor den Kränen und Gerüsten prangt seit kurzem ein Werbeplakat mit drei Verben: Wohnen. Arbeiten. Einkaufen.

     Diese Kombination scheint offenbar eine breite Klientel anzuziehen. Spontan schoss mir das „cogito ergo sum“ von Descartes durch die Synapsen. In einem kurzen Gedankenexperiment sei die Frage erlaubt, ob und wie weit der aufklärerische Primat des Denkens heute den drei Plakat-Verben gewichen ist.

     „Habito ergo sum.“ Ich wohne, also bin ich. Tatsächlich definieren sich mehr Menschen durch ihren Wohnort oder ihre Wohnlage als durch ihre Gedanken und Ideen. Wer in Luzern etwas auf sich hält, wohnt in den Quartieren Wesemlin, Dreilinden oder Bramberg. In St. Gallen wohnt „man“ am Rosenberg oder in Rotmonten. Und in Zürich in Zoo-Nähe oder im Seefeld. Oder eben in den neuen Würfeln beidseits der Bahngeleise. Die Art des Wohnens korreliert nicht nur mit unserem Statusdenken, sondern auch mit unserem Stimm- und Wahlverhalten.

     „Laboro ergo sum.“ Ich arbeite, also bin ich. In unserer Leistungsgesellschaft definieren und identifizieren wir uns stark durch die berufliche Rolle. Kein Wunder, dass manche in eine Krise stürzen, wenn sie entlassen, pensioniert oder nicht befördert werden oder wenn sie nicht die erwartete Lohnerhöhung erhalten.

     „Sumo ergo sum.“ Ich konsumiere, also bin ich. Während sich Familien in den 70er Jahren in den Einfamilienhäuschen auf dem Land bewusst von den Einkaufsmeilen entfernten, gehört es bei den Generationen Y und Z offenbar zum Wohlbefinden, wenn sie von 6-22 Uhr mit dem Lift vom Wohnzimmer ins Büro und ins Shopping-Center fahren können.

     Dass man am gleichen Ort wohnt, arbeitet und sich versorgt, ist keine Erfindung von Zürcher Baufirmen, sondern eine Tatsache seit dem Ackerbau. Neu ist an den urbanen Bed-Job-Shop-Siedlungen, dass diese Kombination eine freie Wahl ist und nicht mehr eine Notwendigkeit. Zweitens drückt die neue Einheit von Wohnen, Arbeiten und Konsum aus, dass heute manche Bereiche des Lebens einfach praktisch sein müssen. Nach diesem Prinzip sind leider auch immer mehr Menschen gekleidet bzw. angezogen. Drittens findet man in den urbanen Multi-task-Bauten gleich ums Eck nicht nur wie in Andermatt, Wolhusen oder Wängi den Volg und die Bäckerei, sondern die hippen Labels aus aller Welt.

     Das Plakat „Wohnen. Arbeiten. Einkaufen“ bewegt mich nicht zum Auszug aus meiner Wohnung am stillen Kraftort auf 1300 Meter Höhe. Es müssten schon Begriffe drauf stehen wie: „Ruhe. Sonne. Waldsee“ oder „Museumsviertel. Konzerthalle. Kaffeehäuser.“. Attraktiv wären auch Attribute wie „Grünflächen. Autofrei. Spazierwege.“ Definitiv umziehen würde ich, wenn auf dem Plakat stünde: „Freie Sicht auf Mythen, Matterhorn und Mittelmeer.“

 
 
 

 
 
 

Meine Kolumne in der Serie "Unkommod"

in: "Ostschweiz am Sonntag" und "Zentralschweiz am Sonntag" am 27. Februar 2019

 

Wie lange bleibt die Jugend voll Greta? 

Dank Greta ist das Thema Umwelt bei der Jugend angekommen.

Hält die Empörung bis zum Buchen der Sommerferien an?

 
 
 

 
 

Die 16-jährige Greta Thunberg organisiert seit August 2018 vor dem Stockholmer Parlamentsgebäude jeden Freitag Schülerstreiks für ein besseres Klima. Weil dies weltweit Schule machte, trat Greta bereits im Dezember am UNO-Klimagipfel in Katowice auf. Und im Januar 2019 erhielt Greta am Davoser WEF mehr Aufmerksamkeit als Merkel, Guterres, Lagarde und die 3000 Konzern-Chefs zusammen. Die berühmteste und unkommodeste Influencerin der Welt wirbt für ein einziges Produkt: den Planeten Erde. Greta hat die «Gen Z» (Generation Zero der Nullerjahre) politisiert. An Schulen, Demos und familiären Esstischen wird derzeit heftig über den Verkauf des Familienautos, die Einführung fleischloser Menus und über No-go-Ferien-Transportmittel debattiert. 

     Wie schaffte es Greta Thunberg innert weniger Monate zu globaler Berühmtheit? Der Inhalt ihrer Botschaft kann es nicht sein. Denn die Fakten, die Greta über Treibhausgase und Klimawandel verbreitet, sind seit 40 Jahren hinlänglich bekannt.

     Rezept Nummer 1 ist die Personifizierung und Emotionalisierung komplexer Themen. Erderwähnung und Treibhausgase haben mit Greta ein Gesicht und einen Namen erhalten. Ihre Sitzstreiks lösen mehr Betroffenheit aus als Umweltgipfel. Und die Teenagerin, die für ihren WEF-Besuch 60 Stunden Zug fährt und im Zelt übernachtet, beeindruckt mehr als Politiker und Manager, die dunklen Limousinen entsteigen und hinter Saaltüren entweichen.

     Das Erfolgsrezept Nummer 2 ist Gretas Glaubwürdigkeit. Sie vertritt keine Einzelinteressen und ist nicht korrumpierbar. Ihre Worte und Taten sind deckungsgleich.

     Mit ihrer Glaubwürdigkeit hängt auch Rezept Nummer 3 zusammen: die existenzielle Ergriffenheit. Bei Greta berührt das kognitive Wissen über die Umwelt Herz und Bauch: «Wenn man einmal begriffen hat, um was es beim Klima für die Welt jetzt geht, kann man nicht mehr zurück. Ich habe nicht mehr gegessen und konnte nicht mehr zur Schule.»

     Persönliche Ergriffenheit und Empörung führen aber nur zum Erfolg, wenn Rezept Nummer 4 hinzukommt: das vernetzte Handeln. Um angesichts globaler Probleme nicht in Ohnmachtsgefühlen zu erstarren, vernetzte sich Greta mit Gleichgesinnten. So wurde aus dem Tropfen auf den heissen Stein ein weltweit reissender Strom. Dabei half wesentlich das Rezept Nummer 5: die Sozialen Medien. Gretas Videos werden online ohne Werbe-Budget millionenfach angeschaut und geteilt.

    Gretas Rezept Nummer 6 ist die emotionalisierte Botschaft. Die Teenagerin konfrontiert die Mächtigen in Politik und Wirtschaft mit starken und verständlichen Metaphern: «Es ist nötig, dass jeder von euch eine Panik spürt, wie wenn euer eigenes Haus brennt. Denn das tut es…. Ihr sagt, dass ihr eure Kinder über alles liebt. Trotzdem stehlt ihr ihnen ihre Zukunft, direkt vor ihren Augen.»

     Rezept Nummer 7 sind Gretas konkrete Forderungen: weniger fliegen und Auto fahren, Kreuzfahrten vermeiden und weniger oder gar kein Fleisch essen. Und Staaten sollen Flugbenzin und grosse Autos stärker besteuern und erneuerbare Energie fördern.

 
 
 

 
 
 

Meine Kolumne in der Serie "Unkommod"

in: "Ostschweiz am Sonntag" und "Zentralschweiz am Sonntag" am 27. Januar 2019

 

Kampfthemen gehen an Wählersorgen vorbei 

Sozialhilfe und Migration bilden die Top-Themen im Wahljahr. Die Wähler sorgen sich aber um ihre Altersvorsorge.

 
 
 

 
 

Die Top-Themen im Wahljahr 2019 sind gesetzt: Flüchtlinge und Sozialhilfe. Beide Themen lassen sich leicht emotionalisieren und lenken wunderbar ab von den echten gesellschaftlichen Herausforderungen der nächsten 4 beziehungsweise 10 oder 20 Jahre.

     Beim Thema Migration besteht das eigentliche Problem nicht in der mangelnden Integration, sondern darin, dass die Zahl der Migranten seit Jahren zurückgeht und darum Bund und Kantone nicht wissen, ob die geplanten Asylzentren überhaupt nötig sind. Politiker, welche die Ausgaben für Sozial- und Klimaprojekte im Ausland ernsthaft kürzen wollen, bereiten den Boden für die nächste Flüchtlingswelle.

     Und beim Thema Sozialhilfe liegt das eigentliche Problem nicht im Missbrauch oder in zu hohen Kosten. Die Sozialhilfe macht gerade mal 1,7% der Ausgaben im Sozialwesen aus, also weniger als die Löhne des Personals in diesem Bereich. Das Problem bei der Sozialhilfe besteht darin, dass Armut nur verwaltet statt bekämpft wird. Es bräuchte gezielte Investitionen in Aus- und Weiterbildungen, damit Armutsbetroffene möglichst rasch aus der Sozialhilfe finden. Aber Gemeinden, die das tun, kann man landesweit an einer Hand abzählen. Soll die Sozialhilfe professioneller und gerecht werden, muss sie zudem national und nicht kantonal und kommunal geregelt werden.

     Falls aktuelle und potenzielle Parlamentarier*innen mit den emotionalisierten Themen Migration und Sozialhilfe am 20. Oktober Stimmen gewinnen wollen, sollten sie in den nächsten Monaten populistische Schlagworte tunlichst durch stringente Argumente ersetzen. Erfolgsversprechender wäre aber, wenn sich Parlamentskandidat*innen den Themen stellen würden, die uns heute und in Zukunft tatsächlich herausfordern.

     Im Sorgenbarometer 2018 nennen 2'500 Schweizer Stimmberechtigte die Altersvorsorge als Problem Nummer eins, gefolgt von den Kosten für Gesundheit bzw. Krankheit. Gestiegen sind auch die Sorgen um den Umweltschutz und um die Auswirkung der allgemeinen Wirtschaftslage auf unsere Arbeitsplätze. Dass die politischen Parteien laut Sorgenbarometer innert eines Jahres 13 Prozentpunkte an Vertrauen verloren haben, hängt stark damit zusammen, dass die bisherigen Parlamentsmitglieder nicht bereit waren und sind, in den Bereichen Altersvorsorge und Gesundheit konstruktive Kompromisse und nachhaltige Lösungen zu finden.

     Wer also künftig im Parlament politisieren will, ist gut beraten, wenn sie oder er die Themen Migration und Sozialhilfe eine Zeitlang in die Besenkammer sperrt und stattdessen im Wochentakt konstruktive Ideen für die Altersvorsorge generiert, beispielsweise einen freiwilligen Verzicht von Millionären auf die AHV oder die Flexibilisierung des Rentenalters, die Schaffung einer obligatorischen Pflegeversicherung, die Erhöhung der Mehrwertsteuer zu Gunsten der AHV oder die Senkung der BVG-Eintrittsschwelle.

      Auch zur Senkung der Gesundheitskosten könnten Parlamentskandidaten im Wochentakt Sparideen twittern, damit Krankenkassen, Spitäler, Hausärzte, Pharmaunternehmen, Politikerinnen und Prämienzahler ihr Schwarz-Peter-Spiel beenden können. Auf diese Weise würde aus dem langweiligen Wahlk(r)ampf ein spannender Ideen-Wettbewerb.

      Und falls die Klima-Sitzstreiks von Schweden mit etwas Glück auf unsere Jugend überschwappen, sollten sich alle Parteien schon mal in die Startlöcher begeben, um dann halbwegs glaubwürdig zu vertreten, dass sie sich immer schon radikal für die Umwelt eingesetzt haben.